Tagebucheintrag vom 18. April 1945⇦ Einzelansicht
Nachlass Faulhaber 09265, Seite 43-44

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Die Katastrophe in Freising. Mittwoch, 18. April, 1945, 15.00 Uhr.

Am Tag zuvor bei Tisch habe ich den Herren erklärt: Die Front von Nordbayern kommt immer näher, der Freisinger Bahnhof mit den Kriegsindustriewerken Schlüter und den anstoßenden Lagerräumen von Hergut werden sicher einmal an die Reihe kommen. Tags zuvor war Regens nicht im Hause und niemand dachte daran, das Sanctissimum in den Schutzkeller zu bringen und die Generalabsolution zu geben. Darum fuhr ich fort: Ich bitte die Herren, beim wirklichen Vollalarm in den Schutzkeller zu gehen. Auch die Schwestern, die bisher ruhig weiterarbeiteten, sollten in die Bäckerei gehen. In der Nacht waren wir wieder zweimal im Keller, die Sirene weckte das ganze Haus. Mittwochvormittag war Ordinariatssitzung, auch von München waren drei Herren gekommen. Während dieser Sitzung zwei Mal Grossalarm. Wir mußten aber fertig machen, weil die Herren Mittag wieder nach München zurückfahren wollten mit dem 18.00 Uhr-Zug. Untertags gingen keine Züge mehr. Nach Tisch mußte ich noch Dr. Grautmann. sprechen, ohne Einladung hierher gekommen. Kaum war diese Aussprache zu Ende, ich ging im Zimmer auf und ab, ein Krachen, wie wenn die oberen Stockwerke an der Außenwand meines Zimmers herabrissen, ein paar furchtbare Schläge, die Wand schien sich zu neigen, die Fenster klirrten zu meinen Füßen, ich sehe die Sprünge. Gleich darauf neue Schläge, es war, als ob unmittelbar vor meinen Fenstern, war aber in Wirklichkeit über den Bahnhof ergangen. Ohne Kellergepäck, das vollständig bereit lag, rannte ich ins vordere Zimmer, das von innen verschlossen war. Ich brachte es nicht auf, rannte zurück, und gerade als ich wieder in meinem Wohnzimmer war, ein neuer Schlag, diesmal schlug die Sprengbombe wirklich unter meinen Fenstern ein. Stuck fiel von den Decken und Wänden, ganze Fensterrahmen lagen bereits im Gang. Im Schutz noch ein paar ganz schwere Einschläge, diesmal von der Nordseite, alles warf sich auf den Boden, der Keller wankte, wir hatten nur die fünf schweren Einschläge gezählt, die aber waren alle in Kette im Garten vom Isardamm herab, auf den Feldern und Wiesen, gegen den Bahnhof und gegen den Domberg, im neu gepflegten Garten, wohl bei hundert Trichter zu zählen. Als wir nach einer Stunde heraufkamen, um zu sehen, ob unsere Wohnzimmer und deren Inventar noch stehen, ein Herr von Grünwald stand an der Stiege mit der Bürste, um uns abzubürsten, brannte der Bahnhof, die Hauptpost, die Umgebung, ein Teil der auf ein totes Gleis geschobenen lichterloh, besonders aber das große Lagerhaus, am nächsten Tag sollte der Proviant auf die Lazarette verteilt werden, im Haus war eine Tonne angemeldet bewohnte Häuser nicht mehr zu finden, rechts auch Steinecker und Nachfolger von Schlüter, die protestantische Kirche mit großer Rauchwolke nach Südosten. In meinem Zimmer das von München her gewohnte Bild. Frei liegende Zettel durch die Fenster in den Garten geworfen, dort zusammenzulesen. Bald darauf wieder in den Keller, wie das wohl überall ist, sobald man Fliegergeräusche hört. In banger Erwartung gewesen. Einige Detonationen, aber in der Ferne. Nun Tage lang ohne Sirene, ohne Strom, also auch kein Laibacher Sender, ohne Wasser. In der Stadt für all das nichts vorbereitet. Wasser muß von den Gefangenen aus der Moosach geholt werden gerade gegenüber dem Baum vor dem eine Leiche und eine zweite, vielleicht noch eine dritte und vierte lag aber nicht als Trink- und Kochwasser. Über das neue Signal viel studiert die Domglocken? Beim nächtlichen Alarm sehr jämmerlich wimmernd, vierundzwanzig Stunden später und mit: vier Kanonenschlägen Alarm, zwei bedeuten Entwarnung. Auch jetzt noch unklar, weil überall Panikstimmung und

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das Geschützfeuer von der nahen Front zu hören ist.

Tote, sagt der Pfarrer, seien amtlich 230. Auf dem Bahnhof ein Sanitätszug besetzt, Volltreffer. Kabel nach Genf mit Beschwerde, weil das Lazarett am hellen Tag beschossen wurde. Jetzt noch ein rotes Kreuz an der Südwand. Die Gefangenen wollen nicht in den Zimmern bleiben, auch die Russen drängen in den Keller. Unter dem Baum meinem Zimmer gegenüber liegen mehrere Leichen. Nach vierundzwanzig Stunden noch da. nichts vorgesorgt. Die beiden Eltern
Christian Schekenhofer und Lina Schekenhofer.
des protestantischen Pfarrers, der nun seine Kirche bis auf den Turm und die Altäre verloren hat und die Friedhofskirche zur Benutzung erhalten soll. Eine Mutter war mit den Kindern auf einer Bank gesessen, die Kinder zerstückelt über den Bach geworfen, und sie liest in einem Kübel später die Teile der Kinder zusammen.

Kienitz war spazieren auf dem Isardamm und warf sich in einen Graben. Pater Spiritual war nicht hier und kam erst abends. Der Überfall hatte zunächst dem Bahnhof gegolten wie auch in Landshut und überall um den Nachschub nach München unmöglich zu machen. Die Züge halten alle draußen bei Schlüter. Die großen Betriebe und Lagerräume brennen und auch noch nach vierundzwanzig Stunden. In der Nacht ein schauerlicher Anblick und darüber die friedlichen Sterne. Erst bei Tage sahen wir, daß die Vorratsscheune weiter rückwärts noch stand, daß sie also wahrscheinlich noch einmal kommen. Wenn ihnen das Lichtbild der Zerstörung noch nicht genügt.

Die Schwestern sofort darüber, die Zimmer wenigstens soweit zu reinigen, daß die vielen Herren in den Zimmern schlafen können mein Wohnzimmer nicht zu richten, es ist sehr warm untertags und wir müssen mit neuem Überfall rechnen.

Zum Brevier kommen die meisten in der Nacht bei Kerzenlicht.

An dem Stollen, den die Reichseisenbahner unter dem Knabenseminar durch den Berg treiben wollen, ohne uns zu fragen: sechs Tote, darunter zwei Engländer in dem von den Bomben aufgewühlten Garten des Seminars, wo alles in Frühlingstrieb war, Trichter an Trichter, die Ufer der Moosach zerrissen viele Bäume umgerissen, dazwischen blühen die Apfelbäume. Auf den Bahngleisen und auch daneben die eisernen Rippen der ausgebrannten Wagen. Ein Stück des Zuges liegt über dem Bahnkörper wie ein Drache der Urzeit. Nach dreißig Stunden spritzt man Wasser in die Schrotthaufen der Lagerhäuser. Eben geht ein Geisterzug mit allem möglichen Gepäck vorüber, der eine Stunde zu Fuß gehen muß zum Zug nach München.
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Digitalisat Faulhaber-Edition